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Uneinsehbares Gelände (Ausschnitte)

Uneinsehbares Gelände (Ausschnitte)

Published May 16, 2023 Updated May 16, 2023 Culture
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Uneinsehbares Gelände (Ausschnitte)

Autor: Kiss Tibor Noé
Übersetzer: Eva Zador

Auf dieser Station ist der Mensch nur ein Körper, eine Nummer, ein Eintrag. An der Tür zum Krankensaal zwei Blätter, auf den Blättern Filzstiftaufschriften. 7/1, flüssig, breiig, das ist die alte Frau. 7/2 ist Dorka, neben ihrer Nummer steht nichts, eine leere Rubrik auf dem Patientenblatt, sie füttert niemand, weil sie nicht essen, nicht schlucken kann. Dorka wird von Maschinen und Geräten ernährt, doch die Pflegerinnen sprechen sie wenigstens mit ihrem Namen an, während sie ihre Zimmernachbarin nur die alte Frau aus der Sieben nennen. Meine Tochter liegt seit einer Woche in diesem Krankensaal, wo sie gesund werden müsste, doch was sie umgibt, das ist der Tod. Die alte Frau schrumpft von Tag zu Tag. Ich betrachte ihren ausdruckslosen Blick, den zitternden Mund, das eingefallene Gesicht, die zwei Wangenknochen und die zwei Augenhöhlen. Das ist gar kein Gesicht mehr, das ist ein Schädel. Mit dem Nahen des Todes verliert der Körper seine Farbe, die Haut wird aschfahl, trocknet aus wie eine Pergamentrolle. Dorka ist rot im Gesicht, aber auch das ist ein Krankheitssymptom, sie ist warm, das Fieber steigt immer mehr. Stumm und hilflos liegt sie im Bett, nur ihre Lunge pfeift, das ist das einzige Lebenszeichen. Ich betrachte ihr Gesicht, und plötzlich wirkt meine Tochter fremd, ihre Züge sind mir fremd, ihre Wunden, das klatschnasse Haar, die ausgetrocknete, pergamentartige Haut, die schlaffen Oberarme, die dürren Beine, aber am fremdesten ist mir die Stille, die sie umgibt.

Im Gemeinschaftsraum brummt der Kühlschrank. Auf dem Tisch ein Wachstuch, auf dem Sofa eine Decke mit Palmen drauf, Fliesen auf dem Boden und an den Wänden. Im Halbdunkel des Vorraums zwischen Flur und Gemeinschaftsraum sind die nebeneinander gestellten Krücken und Gehhilfen zu sehen, im Hintergrund eine Sprossenwand. Seit Dorka hier ist, habe ich vor immer mehr Wörtern Angst, ich habe Angst vor Zustand, Stille, Fremdheit, Lungenentzündung. Und es gibt Wörter, die mir Hoffnung geben, wie beispielsweise Rehabilitation. Ich sehe Dorka vor mir, wie sie sich an der Sprossenwand hochzieht, weil sie, wenn sie gesund wird, wahnsinnig viel Kraft sammeln muss. Die Oberschwester meint jedoch, in einem solchen Zustand würde man nicht einmal ein Konsilium einberufen, weil sie zu keinerlei eigenständiger Tätigkeit in der Lage sei, zudem bessere sich auch ihre Lungenentzündung nicht. Vorerst sei es nicht real, von Rehabilitation zu reden. Das Ende des Wortes verschluckt sie, ich befürchte, die Situation ist schlimmer. Dann beginnt sie wieder, von ihrem eigenen Sohn zu erzählen, der mit neun vom Kirschbaum gefallen und erst nach zwei Tagen zu sich gekommen sei. Heute sei er schon ein erwachsener Mann, arbeite in Österreich und Bergsteigen sei sein Hobby. Nur Geduld, ich fühle mit Ihnen, sagt die Oberschwester jedes Mal, dann steht sie auf und drückt mich am Oberarm. Sie drückt fest zu, wie ein Mann. Zwei Tage, da kann man auch verrückt werden, erst recht bei mehr als dreißig. Ein Monat. Die Fliesen verschwimmen vor meinen Augen, die Matrix zerfällt, mir wird schwindlig. Neben dem Kühlschrank welkt eine Minithuja vor sich hin. Die Maschinen brummen, die Fahrstuhlkabel surren, Dorkas Lunge pfeift, sogar hier draußen ist es zu hören. Ich bin müde, ich gehe nach Hause.

*

Auf dem Bergkamm bläst mir der Wind ins Gesicht
Meine Haare wehen meine Lunge weitet sich
Durch mich strömt der Sauerstoff
Es rasen die roten Blutkörperchen
Am tiefblauen Himmel der orange Mond
Hufe stampfen durchs stumme Tal
In den Mäulern der Pferde blitzt das Mundstück auf
Ein Hund läuft neben dem Wagen her
Die Achse des Pferdewagens knarrt
Die Tür des Eisenschranks knarrt
Vom Garten aus sehen wir den Eichelhäher
Den dichten Fichtenwald den Nebel
Den durchsichtigen schmierigen Belag
Lungenröntgenaufnahme
Fichtennadelteppich
Der Wald ist ein weiches Kissen
Auf dem Kissen Absonderungen
Ich sterbe im Mördersee
Es schlürft der Speichelsauger
Die Maschine pumpt Blut
An den Pferden straffen sich die Zügel
Romamädchen hocken auf dem Bock
Das Stroh bläst der Wind hinfort
In der Schlucht traurige Holzbuden
Geflochtene Körbe an rostigen Haken
Wollpullover und Strohhüte
Ich beiße in die Luft
Klappere anmutig mit den Zähnen
Ziehe den Reißverschluss des Sauerstoffzelts hoch
Wir sehen vom Garten aus den Wald
Der Garten ist ein weiches Kissen
Nebel und Rauch bedecken uns
Es lodert das Feuer die Holzscheite knistern
Wir sitzen zwischen den Bäumen
Mutter hat sich beim Wandern eine Blase gelaufen
Ihre Fußzehen sind blutig
Der rote Nagellack ist verlaufen
Wir sitzen auf dem Wannenrand
Ich lackiere mir die Nägel du putzt dir die Zähne
Ich erzähle vom Obdachlosenheim
Von Leuten mit Plastiktüten
Von Tuberkulose und Läusen
Du schweigst denn du putzt dir die Zähne
Die Zahnbürste schrubbelt in deinem Mund
Der Fernseher des Pförtners knistert
Alle husten
Es hustet das ganze Gebäude
Plötzlich knarrt der Eisenschrank
Schlüsselbunde klirren
Der Eichelhäher spielt Fahrstuhltür
Ich erzähle von Mutter und Vater
Mutter schimpft auf die Wanderschuhe und Socken
Vater liest unter den Fichten
Vater liest ständig
Ich weiß dass er dabei an Mititei denkt
Ans Lammfleisch und den Senf
Dann macht er Witze wir lachen
Die Frau ist kein Spielzeug
Der Mann kein Bär
Mutter will dann Scrabble spielen
Sie legt Wörter die es nicht gibt
Vater akzeptiert sie ich spüle
Das Geschirr klappert
Etwas rauscht etwas brummt
Sirenenkonzert
Vollmonddrama
Was für Wörter sagt Vater
Tausend Punkte zweitausend Monde
Du glaubst es nicht dass Mutter so sein kann
Du glaubst es nicht dass sie wirklich verlaust sind
Wie naiv du doch bist aber so liebe ich dich
Meinen kleinen Finger lackierst du
Ich bewege mich nicht damit du es nicht vermasselst
Mit dem Bergkamm fahre ich fort
Wo sich meine Lunge weitet
Und der Sauerstoff strömt
Und die roten Blutkörperchen knistern
Wo der Pferdewagen klappert
Die Hufe stampfen
Die Pferde sich jagen
Der Wald still ist und dunkel
Ich ziehe den Reißverschluss des Zeltes hinter mir zu
Unter meinem Kopf ein weiches Kissen
Stille Dunkel
Ich zähle die Schafe
Etwas streichelt mich deckt mich zu
Vaters Hand ist groß und warm
Vater mag es wenn ich ihn Hula-Hoop nenne
Aber für mich ist er apa Vater
Auch dann apa
Für die Einheimischen bedeutet apa rumänisch Wasser
Ich erschlaffe
Das hier ist das zweiundsiebzigste Schaf
Im Wald Stille Dunkel
Auf dem Bergkamm bläst mir der Wind ins Gesicht
Am tiefblauen Himmel der orange Mond
Zweitausend Monde gefrieren ich träume
Meine Haare wehen meine Lunge weitet sich
Durch mich strömt der Sauerstoff
Es rasen die roten Blutkörperchen
Ich träume dass ich aufwache
 
*

Diese Kapillaren sind wie Stromkreise. Sie verlaufen nebeneinander, berühren oder kreuzen sich an manchen Stellen, organisieren sich zu Knotenpunkten, breiten sich aus. Die Oberfläche der ovalen Knotenpunkte ist dunkler, manchmal vollkommen schwarz. Eine Aneinanderreihung zarter Falten, Bergketten und Flussbetten in Miniatur, in den Mulden setzt sich der Staub fest, die Brotkrumen, die Radiergummikrümel, meine Augen flimmern durch die Rillen und Risse, als würde ich die Nervenbahnen des Gehirns vor mir ausgebreitet sehen, hundertfünfzigtausend Kilometer auf der Tischplatte. Ein uneinsehbares Gelände, zwischen den Kabeln unbekannte Kontakte, unentwirrbare Verbindungen, ich weiß nicht, wohin die Nervenstränge führen und wodurch sie sich aktivieren. Wir sind verdrahtet, wissen aber nicht, wie. Seit dem Unfall kann ich mir oft selbst nicht folgen, irre im Labyrinth meiner Nervenbahnen umher. Seit fünfundzwanzig Jahren sitze ich an diesem Tisch, und die Furchen auf ihm, die unabwaschbaren Tintenflecken, die von heißen Kaffeetassen hinterlassenen kreisrunden Abdrücke, die Kapillaren, Stromkreise und Rillen werden immer mehr. Das ist der Tisch eines Lehrers, das ist ein Klassenzimmer, das ein Kreidestück, das sind Schulbänke, das sind gewellte Zettel, das sind Schüler, ich bin der Lehrer. Das Thema der heutigen Aufgabe sind die Begriffe Demokratie und Diktatur, ihr könnt frei antworten, es kann ein historisches Beispiel sein, ein eigenes Erlebnis, ihr könnt euren Lieblingsfilm vorstellen, von mir aus ein Gedicht schreiben, oder schreibt einfach nur Buchstaben nacheinander auf, es müssen keine Wörter sein, das ist kein Schulwettbewerb, das ist kein Test, schreibt nur, schreibt, bleibt einfach ruhig, ich bitte um Ruhe, möchte meine eigenen Gedanken hören, wie sich mein Gehirn entlädt, die summenden, pfeifenden Töne. Ich scrolle in Ruhe nach unten. Die Lungenentzündung (pneumonia) ist eine Erkrankung der Lunge und der Atemwege, die durch die Entzündung der Lungenbläschen (alveolus pulmonis) und eine Ausfüllung mit entzündlicher Absonderung (exsudatum) gekennzeichnet ist. Meist wird sie verursacht durch Erreger wie Bakterien, Viren oder krankheitserregende Pilze, eventuell Parasiten, in selteneren Fällen entwickelt sie sich durch Kreislaufprobleme, ätzende Dämpfe und Gase oder anderweitige Lungenverletzungen, bestimmte Medikamente beziehungsweise Autoimmunerkrankungen. Zu den typischen Symptomen gehören Husten, Schmerzen im Brustkorb, Fieber und Atembeschwerden. Das ausgebreitete Bild der Lunge, wie die Baumkronen auf Zsófis Lieblingsgemälde, weiße Flecken im grauen Wabern, sich ineinander klammernde Wirbel, die blassen Umrisse der Rippen, eine vergessene Venenkanüle, eine Entzündung am Lungenlappen, auf der verschwommenen Röntgenaufnahme, Kratzer auf dem Handydisplay. Seit fünfundzwanzig Jahren glaube ich, dass das ein Schreibtisch ist, dass das eine Tischplatte ist, ein Holzfurnier mit Maserung, aus Lamellen zusammengeleimt, gehobelt, mit abgeblätterter Lackierung, darauf das Klassenbuch, eine Topfpflanze, meine Stifte, neuerdings mein Handy und der Laptop. Dass das ein Klassenzimmer ist, dass das Gegenstände sind, dass das, was mich umgibt, die Wirklichkeit ist.

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